Santiago ist ein eindrucksvoller Ort – auch für religiöse Zweifler. Auf dem Praza do Obradoiro vor der Kathedrale gewinnt man rasch die Erkenntnis: Für jeden Pilger, jede Pilgerin ist die Ankunft ein persönliches Erfolgserlebnis. Auch wenn jährlich 300.000 andere die gleiche Heldentat begehen, fühlt sich in diesem Moment jeder einzelne als Hero. Denn die Menschen haben lange Wege hinter sich.

Ankunft in Santiago de Compostela, die Menschen jubeln. © Ulrike Potmesil


Pilger jubeln, liegen einander in den Armen, lassen sich wie Rockstars beim Stage Diving tragen, schwenken Fahnen, werfen sich auf den Boden, recken kreischend die Hände gen Himmel, Biker heben ihre Räder wie die Heilige Monstranz. Sie alle haben ihr Ziel erreicht, die Kathedrale von Santiago de Compostela, Grabstätte des Apostel Jakobus, seit Tausenden Jahren christlicher Pilgerort.

Stage Diving mit Jakobsmuschel vor der Kathedrale des Heiligen Jakobus © Ulrike Potmesil

Viele kommen aus religiöser Überzeugung hierher. Wandern Hunderte oder Tausende Kilometer, um die Gebeine des Jakobus zu sehen und ihm für seine Wunder zu danken oder um eines zu bitten. Manche wandern richtig weit. Denn viele Wege führen nach Santiago und treffen vor der Kathedrale zusammen, so auch jener aus dem Weinviertel. Der ist weniger überlaufen als andere Jakobswege – ideal für innere Einkehr – und führt durch sanfte Hügel, Weingärten und geschichtsträchtige Orte.

Pilgern durch die Kellergasse von Poysdorf © Mandl
Pilgern durch die Kellergasse von Poysdorf © Mandl

153 Kilometer beträgt der Abschnitt von Drasenhofen bis Krems, wo er an den österreichischen Jakobsweg anschließt. Je nach Kondition braucht man dafür sechs bis acht Tage, und wer wirklich Buße tun will, geht bis Santiago. Sehr sportliche Pilger sollten für diesen 3.000-Kilometer-Marsch mindestens 100 Tage einkalkulieren.

Der Weg führt über den Michelberg. © Weinviertel Tourismus Christine Wurnig
Der Weg führt über den Michelberg. © Weinviertel Tourismus Christine Wurnig


Der Weg führt über die Weinstadt Poysdorf, über Mistelbach und das spirituelle Zentrum Großrußbach. Weiter über Stockerau, wo sich ein Besuch der Jakobskirche anbietet, und dann bis Krems, einer Stadt, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt und damit gebührender Abschluss – oder eben Zwischenstopp – der Pilgerreise ist.

Mit der Jakobsmuschel vom Weinviertel bis Spanien. © Weinviertel Tourismus Lahofer

Die Geschichte der Jakob’schen Gebeine ist mit wundersamen Zufällen gespickt. Jakobus der Ältere, einer der zwölf Aposteln Jesu, starb als Märtyrer. Er wurde in Palästina enthauptet, seinen Leichnam hat man auf ein Schiff ohne Besatzung verfrachtet, und in Galizien wurde dieses an Land gespült. Sein Grab in Santiago geriet in Vergessenheit, wurde aber – welch Wunder – im 9. Jahrhundert wiederentdeckt.

Doch die Enthauptung des Apostels erwies sich als Glücksfall für jene Ritter und martialischen Kleriker, die mit Schwertern in den Kampf gegen jene Heiden zogen, denen das Wort Gottes mit aller notwendiger Gewalt einzutrichtern war. Wunder des Heiligen Jakobus sorgten für viele Siege gegen die Mauren, was ihm den Beinamen Maurentöter einbracht.

Die Kathedrale von Santiago de Compostela in Galizien, Sehnsuchtsort Tausender Pilger. @ Potmesil
Die Kathedrale von Santiago de Compostela in Galizien, Sehnsuchtsort Tausender Pilger. @ Potmesil


Im Mittelalter entstand ein regelrechter Jakobsweg-Boom. Pilgerscharen reisten nach Santiago, nicht zuletzt beseelt durch das päpstliche Versprechen des Sündenablasses. Mit der Reformation – Martin Luther lehnte Reliquien- und Heiligenkulte ab – brach die Zahl der Pilger ein, die Inquisition, die Ausländer unter Generalverdacht des Ketzertums stellte, tat ihr Übriges. Im 16. Jahrhundert schließlich wurden die Gebeine des Heiligen so gut vor protestantischen Engländern versteckt, dass man sie 300 Jahre lang nicht fand, und nur einer wundersamen Fügung ist es zu verdanken, dass sie wieder auftauchten.
Heute ist das Camino-Pilgern weniger der Reliquienverehrung als der Spiritualität und Suche nach neuen Werten und körperlichen Grenzerfahrungen geschuldet. Und Santiago ist bis heute ein Ort außergewöhnlicher Emotionen.

Gerader Weg, aufrechter Weg. Pilger-Skulptur in Santiago de Compostela. © Ulrike Potmesil
Gerader Weg, aufrechter Weg. Pilger-Skulptur in Santiago de Compostela. © Ulrike Potmesil

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